Erschienen am 5.9.2017 auf heute.de

 

40 Jahre Deutscher Herbst

 

"Die größte Krise der alten Republik"

Mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF beginnt am 5. September 1977 der Deutsche Herbst. Der Politologe Wolfgang Kraushaar erinnert im heute.de-Interview an die Bedeutsamkeit der "vermutlich größten politischen Krise der alten Bundesrepublik". 

 

heute.de: Warum ist der 5. September 1977 so bedeutsam für die deutsche Geschichte?

Wolfgang Kraushaar: Weil es sich um die vermutlich größte politische Krise der alten Bundesrepublik gehandelt hat, auf jeden Fall aber um die tiefreichendste Krise der inneren Sicherheit. Das war in dieser Hinsicht sozusagen der Ernstfall, den die damalige Bundesregierung zu bestehen hatte.

heute.de: Für manche war die Bundesrepublik auf dem Weg in einen Polizeistaat. War diese Angst berechtigt?

 

Kraushaar: Die innerhalb der radikalen Linken verbreitete Befürchtung von einem Polizeistaat hat letztlich getrogen. Nach dem fürchterlichen Ende der Schleyer-Entführung hat es jedenfalls keine großen Verhaftungswellen oder Repressionen des Staates gegenüber der außerparlamentarischen Bewegung gegeben. Ich halte diesen Begriff deshalb für unangebracht.

 

heute.de: Wie haben Sie damals die Ereignisse wahrgenommen?

Kraushaar: Auf jeden Fall war es eine außerordentlich spannungsgeladene Zeit. Es gab Szenen, in denen aufgeregte Passanten vor laufender Kamera die Einführung einer Lynchjustiz forderten. Oder wie in Bonn, wo vor Regierungsgebäuden Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag hinter Sandsäcken postiert waren, um jederzeit plötzlich auftauchende Gefahren abzuwehren. Diese Bilder haben die Stimmung sehr stark angeheizt, und man wusste schließlich ja auch nicht, was als nächstes geschehen würde. Die ultimative Steigerung war dann am 13. Oktober die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut von Mallorca nach Mogadischu. An Bord befanden sich bekanntlich Touristen. Insofern konnte sich jeder vorstellen, nur zu leicht auch selbst davon betroffen sein zu können. Das hat das Gefühl einer zunehmenden Unsicherheit auf eine geradezu bedrohliche Weise gesteigert.

 

heute.de: Welche Folgen hatte der Deutsche Herbst für die politische Linke? Haben sich danach viele RAF-Sympathisanten abgewandt?

 

Kraushaar: Es gab sicher eine gewisse Überschneidung zwischen dem, was die 68er-Bewegung politisch ursprünglich wollte, und dem, was die RAF dann auf ihrem Irrweg mit Waffengewalt umzusetzen versucht hat. Aber was sich während der 44 Tage der Schleyer-Entführung abspielte, hat nicht wenigen unter den Sympathisanten ihre Solidarisierungsgefühle ausgetrieben. Schon der 5. September 1977 in Köln steht dafür: Um Schleyer überhaupt entführen zu können, waren ja von dem RAF-Kommando dessen vier Begleiter kaltblütig ermordet worden. Das allein war schon abschreckend genug. Ich glaube, dass die RAF zu keinem Zeitpunkt mehr an Zustimmung verloren hat als im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung. Insofern dürfte das insgesamt der Scheitelpunkt im Verhältnis der Linken zur RAF gewesen sein. Anschließend haben sich jedenfalls enorm viele abgewandt, und die RAF war danach isolierter als je zuvor.

 

heute.de: Der G20-Gipfel in Hamburg war geprägt von linker Gewalt. Eine Vorstufe von neuem linken Terrorismus?

 

Kraushaar: Ich halte das nach wie vor für sehr unwahrscheinlich. Es hat unter Politikern zwar eine nicht gerade besonnene Diskussion darüber gegeben, ob das, was sich auf Hamburgs Straßen abgespielt hat, nicht bereits Terrorismus gewesen sei. Ich würde aber darauf insistieren, dass dies kein Terrorismus war. Aber es war gewiss eine entgrenzte Form der Gewalt zu beobachten, die durch die ideologisch ansonsten so anspruchsstarken Forderungen der Demonstranten gegen die unsozialen Folgen der Globalisierung überhaupt nicht abgedeckt gewesen ist. Es hat in den letzten 20 Jahren ja bereits des Öfteren Konstellationen gegeben, in denen man darüber nachdachte, ob es nicht bereits eine vierte Generation der RAF geben würde. All das hat sich aber als nicht stichhaltig erwiesen. Ich kann und möchte mir deshalb auch jetzt nicht vorstellen, dass sich aus solchen Gewalteskalationen wie in Hamburg heraus Gruppen soweit radikalisieren, dass sie erneut zu einem bewaffneten Untergrundkampf bereit wären.

 

heute.de: Warum war vor 40 Jahren möglich, was heute unwahrscheinlich ist?

 

Kraushaar: Ich glaube, es liegt nicht zuletzt daran, dass die damalige Bewegungsgeneration in ihrer Mentalität anders geprägt war als die der heutigen Akteure. Die aufgestauten Hassgefühle gegenüber dem Staat, die man heute wiederzuerkennen glaubt, waren jedenfalls andere. Sie waren sehr stark mit dem schier übermächtigen Bild von NS-Tätern und der Frage verknüpft, wie weit die eigenen Eltern darin verwickelt gewesen sind. Bei der Selbstideologisierung der damaligen Akteure und der Entgrenzung dessen, was mit Regelüberschreitungen begonnen hatte und nur zu rasch in offensive Formen der Militanz übergegangen ist, spielte sich etwas anderes ab als heute. Deshalb glaube und hoffe ich  auch nach wie vor, dass es in unserer heutigen bundesrepublikanischen Welt immer noch andere Schranken gibt, als sie damals vorhanden gewesen sind.

 

Das Interview führte André Madaus.

 

 

 

WOLFGANG KRAUSHAAR,
Wolfgang Kraushaar geboren 1948, ist promovierter Politikwissenschaftler, studierte an der Goethe-Universität Frankfurt Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik und arbeitete dort am Didaktischen Zentrum. Nach seiner Dissertation über den Strukturwandel der deutschen Universität erforschte er am Hamburger Institut für Sozialforschung Protestbewegungen und linken Terrorismus. Seit zwei Jahren setzt er seine Arbeit in der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur fort.

 

 

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© André Madaus