Erschienen am 17.1. 2015 auf heute.de
von André Madaus
Die Biobranche boomt und ist längst zum Mainstream geworden. Dennoch demonstrieren in Berlin wieder mehr als 10.000 Menschen unter dem Motto "Wir haben es satt" für eine Agrarwende und gegen industrielle Landwirtschaft – und gegen den Ausverkauf der Werte, für die "Bio" einmal stand.
Gut 40 Jahre nachdem in Hamburg, Berlin und München die ersten kleinen Läden mit ökologischen Lebensmitteln öffneten, steckt die Bio-Branche in einer Art Identitätskrise. Dazu hat ausgerechnet ihr wirtschaftlicher Erfolg beigetragen: Das rasante Wachstum der letzten 15 Jahre und die Logik der Marktwirtschaft fördern einen Verdrängungswettbewerb, bei dem kleine Produzenten und Bio-Läden unter die Räder geraten. Ägyptische Bio-Kartoffeln in Discountern, Bio-Erdbeeren zu Weihnachten und eine Flut an plastikverpackten Bio-Produkten. Ist das alles überhaupt noch "Bio"?
Bio ist weniger Haltung als großes Geschäft
"Man muss sich davon verabschieden, dass Bio nur gesunde Ernährung meint – das ist es nicht mehr!", sagt Sina Laubscher. Für die Leiterin eines mittelgroßen Naturkostfachladens ist mit der Massentauglichkeit vieles von dem auf der Strecke geblieben, was die Pioniere einst im Sinn hatten. "Bio war mal mehr als nur der Verzicht auf chemische Dünger und Spritzmittel. Das war mal die Idee von der umfassenden Verantwortung im Umgang mit Natur, Menschen und Tieren."
Die nackten Zahlen sprechen für sich: Der Umsatz im sogenannten Naturkostfachhandel stieg in den ersten drei Quartalen 2014 um 8,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Inzwischen gibt es bundesweit rund 2.500 solcher Geschäfte, vom kleinen Bioladen an der Ecke bis zum schicken Bio-Supermarkt. Experten schätzen, dass die gesamte Branche in wenigen Jahren das Doppelte bis Dreifache erwirtschaften könnte. Die Öko-Produzenten kommen da längst nicht mehr mit: Während sich das gesamte Bio-Handelsvolumen in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, ist die Anbaufläche nur um 47 Prozent gestiegen. Auch deshalb müssen viele Produkte importiert werden.
Schuften für einen Hungerlohn - Ist das noch Bio?
In Südspanien schuften Arbeiter zehn Stunden lang bei schlechter Bezahlung und unwürdigen Bedingungen, um Gemüse und Obst für den deutschen Markt zu erzeugen. Die Ware entspricht den Anforderungen des europäischen Bio-Siegels – aber reicht das? Nein, findet Sina Laubscher, denn faire Arbeitsbedingungen gehören für sie zum Bio-Gedanken genauso dazu wie die Vermeidung langer Transportwege und unnötiger Verpackungen. Doch auch sie kann sich den Zwängen des Marktes nicht gänzlich entziehen. "Wir haben den Anspruch, ein Vollsortiment anzubieten. Da lässt sich Importware heutzutage nicht mehr vermeiden. Wenn ich eine Frühkartoffel im Juni anbiete, dann kommt die aus Ägypten."
Letztlich entscheide auch der Verbraucher durch seine Wahl, was im Regal lande.
Im Vergleich zu den großen Bio-Ketten hat Sina Laubscher dennoch eine gewisse Freiheit. "Wir können es uns leisten, bei frischen Waren wie Käse, Wurst, Obst und Gemüse auf den Plastikwahn zu
verzichten." Bei der Zusammenstellung ihres Sortiments setzt sie vor allem auf Regionalität. "Mit der Entscheidung für heimische Produkte gestalten wir alle auch unseren Lebensraum", sagt sie. "Wenn
der Bio-Bauer nicht überleben kann, haben wir irgendwann auch sein Kulturgut nicht mehr."
Gesundes Bio gegen Massen-Bio
Ihre Kundschaft beschreibt Sina Laubscher als bunt gemischt, viele seien "kreativ-interessiert": junge Familien, ältere Leute oder Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen mehr auf ihre Ernährung achten. Für viele ist Tierschutz ein wichtiges Thema. "Vegan ist einer der größten Ernährungstrends in der Biobranche, der natürlich auch Auswirkungen auf die Sortimente der Hersteller hat."
Das kleine Gespräch zwischen den Regalen, das Eingehen auf Wünsche der Kundschaft und eine gute Beratung gehören für sie ebenfalls zum Bio-Gedanken. "Ich werde häufig gefragt, weshalb manche Bio-Produkte zum Beispiel bei der Drogerie-Kette deutlich günstiger sind als bei uns - und ich bin froh um jede Möglichkeit, den Menschen zu erklären, welchen Mehrwert sie hier bekommen."
Die ganze Branche, glaubt Sina Laubscher, müsse sich von einem Bio-Begriff abgrenzen, der auf Masse setzt und dabei zunehmend die ursprüngliche Wertigkeit verliert. "Es ist auch politisch eine Herausforderung, Transparenz zu schaffen und zu erklären, weshalb ein höherer Preis gerechtfertigt ist."
Die Vorgeschichte der Bio-Lebensmittel
Bereits in den 1920er Jahren machen sich einige Bauern angesichts der aufkommenden mineralischen Dünger ("Kunstdünger") Sorgen um die Qualität der Nahrungsmittel. Rudolf Steiner, Gründer der Anthroposophie, entwickelt die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise und damit erste Grundlagen für eine Landwirtschaft ohne Chemie. Daraus geht das erste Bio-Warenzeichen hervor: Demeter-Produkte werden in Reformhäusern angeboten und direkt auf biologisch-dynamischen wirtschaftenden Höfen verkauft, von denen es 1931 bereits 1.000 gibt. Nach dem 2. Weltkrieg entsteht als weiteres Gegenmodell einer zunehmend industrialisierten Landwirtschaft die organisch-biologische Anbaumethode. Aus ihr geht 1971 der Anbauverband Bioland hervor.
Die 70er Jahre: "Bio" in den Kinderschuhen
Nach dem 2. Weltkrieg entsteht als weiteres Gegenmodell einer zunehmend industrialisierten Landwirtschaft die organisch-biologische Anbaumethode. Aus ihr geht 1971 der Anbauverband Bioland hervor.
Von Anfang an geht es bei "Bio" also auch um eine gerechtere Welt. 1972 gibt es in Deutschland fünf Bio-Läden, die ihre Produkte aus lediglich 500 Hektar ökologisch bewirtschafteter Fläche beziehen können. Ihr Angebot beschränkt sich meist auf vegetarische Lebensmittel, Kunden schaufeln sich Müsli oder Getreide in mitgebrachte Gefäße. 1979 ist die Zahl der Bio-Läden auf rund 150 gewachsen. Allmählich entwickeln sich erste Großhandelsstrukturen.
Die 80er Jahre: "Kornkraft statt Kernkraft"
Produzenten, Händler und Ladenbesitzer gründen 1982 den Naturkost e.V., um gemeinsam Qualitätskriterien für Bio-Produkte zu entwickeln. Auf dem "Frankfurter Körner Kongress" 1983 werden 55 Aussteller und etwa 2.000 Fachbesucher gezählt. Nach dem GAU des Atomkraftwerkes in Tschernobyl 1986, der zu einem regelrechten Run auf Bioprodukte führt, testen Bioläden Getreide und Gemüse auf radioaktive Belastung. "Kornkraft statt Kernkraft" steht auf einem Plakat dieser Zeit.
Obwohl "Bio" gesetzlich noch immer nicht geschützt ist, gibt es bereits rund 1.200 Naturkostläden in Deutschland. Viele bieten nicht nur Lebensmittel, sondern alle möglichen "alternativen" Produkte wie Naturfarben, Wollwindeln oder Umweltschutzpapier an. Immer mehr Bio-Waren kommen auch aus dem Ausland - angebliche Bio-Südfrüchte aus Spanien sorgen für den ersten Betrugsskandal. 1987 eröffnet die Firma Alnatura in Mannheim den ersten deutschen Bio-Supermarkt. Am Ende der Dekade werden erstmals mehr als 50.000 Hektar Ackerfläche ökologisch bewirtschaftet.
Die 90er Jahre: "Bio" wird zum Trend
Die 1990er Jahre stehen im Zeichen der Professionalisierung der Naturkost-Szene. Gesunde Ernährung ist angesagt, Bio-Läden werden schicker, das Warenangebot breiter. 1991 tritt die EG-Verordnung Öko-Landbau in Kraft: Wo "Bio" drauf steht, muss ab sofort auch "Bio" drin sein. Erstmals werden umfassende Marketingkonzepte entwickelt, Radiowerbung geschaltet und großflächig Werbeplakate geklebt. 1996 werden zwei Prozent der deutschen Ackerfläche - gut 350.000 Hektar – ökologisch bewirtschaftet. 1999 erlässt die Europäische Kommission Regeln für eine ökologische Tierhaltung. Im gleichen Jahr ist die Zahl der Naturkostläden in Deutschland bei 2.500 angekommen.
Fast alles kann man nun auch in "Bio" kaufen, allein rund 7.000 Pflege- und Hygieneprodukte werden angeboten. Mit dem Erfolg und neuen, kaufkräftigen Kunden wird "Bio" auch für den konventionellen Lebensmittelhandel und Investoren interessanter. Es gibt branchenübergreifend Aufkäufe und Zusammenschlüsse, manche Ökofirma der ersten Stunde wird in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt.
Jahrtausendwende, Agrarwende - "Bio" für alle?
2001 wird die Grünen-Politikerin Renate Künast Landwirtschaftsministerin. Unter dem Eindruck des BSE-Skandals setzt sie die Agrarwende um und führt das staatliche Bio-Siegel ein. Inzwischen arbeiten rund 250.000 Menschen in der Bio-Branche, Tausende Bauernhöfe stellen jedes Jahr auf "Bio" um. Die Zahl der Bio-Supermärkte wird auf gut 200 geschätzt, sie sorgen dafür, dass 75 Prozent aller Deutschen "Bio" zumindest schon mal probiert haben. Die Internationale Messe für Naturkost und Naturwaren "Biofach" lockt 2002 fast 2.000 Aussteller und 30.000 Besucher an.
Als zum ersten Mal der Versuch unternommen wird, Bio-Discounter auf dem Markt zu positionieren, diskutiert die Branche über die ethischen Grundlagen ihrer Wurzeln. Erstmals streiken Bio-Milchbauern, weil sie ihre Existenz durch die niedrigen Preise der Molkereien in Gefahr sehen. Der Kampf um den Wachstumsmarkt "Bio" wird zunehmend härter. Auf der Biofach 2004 rückt ein neues Thema in den Mittelpunkt: Gentechnik.
Bio 3.0
2010 wurde das Europäische Biosiegel eingeführt. Seither haben Bioprodukte auch die Regale in den konventionellen Supermärkten erobert, die ebenso wie die meisten Drogerien eigene Bio-Produktlinien aufgelegt haben. Der Online-Handel mit Öko-Lebensmitteln floriert und auch die Discounter mischen munter mit im Bio-Geschäft. Sie kaufen beispielsweise Biokartoffeln oder -zwiebeln in riesigen Mengen – oft im Ausland – und bieten sie zu Preisen an, bei denen kein Naturkostfachgeschäft mehr mithalten kann.
So ist eine Debatte entbrannt, die unter dem Schlagwort "Bio 3.0" auf der Suche nach einem neuen Profil für die Biobranche ist. Dabei geht es nicht mehr nur darum, auf Giftstoffe und Kunstdünger zu verzichten und gesunde Nahrung anzubieten. Es geht auch um regionale Wertschöpfung, faire Bedingungen für Produzenten und um den Versuch, klimaneutral und in geschlossenen Kreisläufen wertvolle und ausreichende Lebensmittel zu produzieren.
Text: André Madaus