Erschienen am 12.2.2018 auf heute.de

 

Klimawandel

 

Alarmstufe Rot für Meeresschildkröten

 

Eine aktuelle Studie zeigt: Die Klimaerwärmung bedroht die Meeresschildkröten am Great Barrier Reef. Für Experten ist das nur der Beginn unvorhersehbarer Umwälzungen in der Natur.

 

 

Das Geschlecht einer Meeresschildkröte entwickelt sich erst im Ei und hängt davon ab, welche Temperatur im Nest herrscht. Wissenschaftler kennen diesen natürlichen Mechanismus, der so ähnlich auch bei Krokodilen, Eidechsen und einigen Fischarten vorkommt. Forscher haben jetzt festgestellt, dass im Norden des Great Barrier Reefs vor Australien aus etwa 99 Prozent der Schildkröteneier weibliche Tiere schlüpfen.

 

Klimawandel bewirkt "Verweiblichung"
Die Wissenschaftler der US-Meeresforschungsbehörde NOAA untersuchten eine große Population von 200.000 Tieren der Grünen Meeresschildkröte (Chelonia Mydas), die ihre Eier im nördlichen Teil des Great Barrier Reefs ablegen. Dort sind die Meeres- und Sandtemperaturen infolge des Klimawandels bereits messbar gestiegen. Für die Forscher besteht kein Zweifel, dass die Ursache der Verweiblichung in der globalen Erwärmung liegt.

 

Tim Packeiser, Meeresschutzexperte der Umweltorganisation WWF, gibt zu, angesichts der Zahlen "kurzzeitig sprachlos" gewesen zu sein. "Aufgrund des hohen Alters, mit dem die Tiere geschlechtsreif werden, wird es zwar erst mittelfristig zu einem drastischen Rückgang des Nachwuchses kommen. Die Chancen stehen angesichts dieser Erkenntnisse aber sehr schlecht für das Überleben dieser Population. Ich möchte damit nicht das Ende dieser Art ausrufen. Aber die Sorge schwingt mit."

 

Unvorhersehbare Folgen
Meeresschildkröten sind die ältesten Reptilien der Welt, sie existieren wahrscheinlich schon seit 225 Millionen Jahren. Schon immer hat die Temperatur im Gelege über das Geschlecht der Embryos entschieden: Bei 30 Grad Celsius und mehr schlüpfen Weibchen, darunter kommen männliche Tiere zur Welt. Auf veränderte Umweltbedingungen, die es im Laufe der Jahrmillionen immer wieder gegeben hat, können die Tiere reagieren, indem sie zum Beispiel früher oder an anderen Orten nisten. Wissenschaftler befürchten jedoch, dass die Geschwindigkeit des Klimawandels die Fähigkeit vieler Tiere zur Anpassung übertrifft.

 

Die Verweiblichung der Population ist aber nur ein Effekt der Klimaerwärmung. Der steigende Meeresspiegel und Sturmfluten können ganze Brutgebiete an Stränden vernichten. Die Schildkröten sind außerdem vom intakten Zustand des Great Barier Reef und seiner Seegrasgebiete abhängig. Es wird also auch darauf ankommen, wie sich dieser gesamte Lebensraum mit den erhöhten Temperaturen und der Versauerung des Meeres durch den CO2-Ausstoß verändert.

 

Beifang und Umweltverschmutzung
"Am Beispiel der Schildkröten sehen wir, wissenschaftlich bewiesen, die dramatischen Auswirkungen der globalen Erwärmung. Manche Ökosysteme könnten auf katastrophale Situationen zusteuern", betont Packeiser. Werner Eckau vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung sieht das ähnlich: "Je höher man in den verschiedenen Ökosystemen geht, umso komplexer werden die Zusammenhänge. Bei einem Temperaturanstieg von drei oder sogar vier Grad Celsius kann man kaum noch zuverlässige Szenarien entwickeln, zumal in der Biologie dann auch noch das Verhalten von Arten hinzukommt."

 

Der Klimawandel ist aber nicht die einzige Bedrohung für die insgesamt sieben noch existierenden Meeresschildkröten-Arten. In manchen Regionen werden sie wegen ihres Fleisches oder ihrer Panzer noch immer gezielt bejagt, während sie anderswo ungewollt an den Haken der Langleinen-Fischerei oder in Netzen verenden. Schließlich stellt auch die zunehmende Verschmutzung der Gewässer eine Gefahr dar, denn manche Arten können im Meer treibenden Plastikmüll nicht von Nahrung wie etwa Quallen unterscheiden.

 

Beschattung von Niststränden
Um dem aktuellen Problem zu begegnen, sieht Tim Packeiser vor allem eine Möglichkeit: "Der erste Schritt wäre, die direkte Sonneneinstrahlung über den Niststränden wegzunehmen: Die Beschattung der entsprechenden Strandabschnitte, wo die Schildkröten Eier ablegen, ist eine pragmatische und finanzierbare Maßnahme, die wir verfolgen werden." Mit der Errichtung von Schattenzelten könne eine entscheidende Abkühlung erreicht werden.

 

 

 

Faktenbox

Meeresschildkröten

So alt wie die Dinosaurier

Meeresschildkröten bevölkern vermutlich schon seit rund 225 Millionen Jahren die Ozeane. Etwa zur gleichen Zeit entwickelten sich auch ihre Verwandten, die Dinosaurier. Doch während Letztere bekanntlich ausgestorben sind, haben die Meeresschildkröten bis heute überlebt, allen Naturkatastrophen, Eiszeiten und Kontinentalverschiebungen zum Trotz. Damit sind sie die ältesten Reptilien der Welt. 

Ursprünglich stammen die Meeresbewohner von Land- bzw. Süßwasserschildkröten ab, der Schritt ins Meer setzte einige Anpassungen voraus: Anstelle der Beine haben alle Arten Paddel ausgebildet; der Panzer ist stromlinienförmig abgeflacht und, anders als bei Landschildkröten, nicht vollständig verknöchert. 

Die Fähigkeit, bei Gefahr den Kopf und die Extremitäten untern den Schild zu ziehen, haben Meeresschildkröten im Laufe der Evolution verloren. Um im Salzwasser überhaupt überleben zu können, haben sie spezielle Salzdrüsen entwickelt, die zusammen mit den Nieren den Salzgehalt des Blutes regulieren.

 

Sieben Meeresschildkröten-Arten

Die Grüne Meeresschildkröte oder Suppenschildkröte (Chelonia mydas) ist eine von sieben Meeresschildkröten-Arten. Sie alle leben in den tropischen und subtropischen Regionen der Weltmeere. Der größte Vertreter dieser Tierfamilie und gleichzeitig die größte Schildkröte überhaupt ist die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea). 

Sie bringt es auf durchschnittlich zwei Meter Panzerlänge und kann bis zu 700 Kilogramm, in Ausnahmefällen sogar 900 Kilogramm schwer werden. Seinen Namen verdankt das imposante Reptil der lederartigen Haut, die es anstelle des Panzers entwickelt hat. 

Die übrigen Arten gehören der Familie Cheloniidae an, die im engeren zoologischen Sinne als Meeresschildkröten gelten: Die Australische Suppenschildkröte (Natator depressus), die Echte Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata), Kemp’s Bastardschildkröte (Lepidochelys kempii), die Pazifische Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea) sowie die Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta).

 

Rekordverdächtige Taucher

An Land wirken Meeresschildkröten unbeholfen, in ihrem Element sind sie jedoch ausdauernde Schwimmer und hervorragende Taucher. Einige Arten können bis zu 1.500 Meter in die Tiefe gleiten. Ein Meister im Tauchen ist die Grüne Meeresschildkröte, die bis zu fünf Stunden unter Wasser bleiben kann. Ihr Puls wird dabei extrem gesenkt, das Herz schlägt nur noch alle neun Minuten. 

Woran sich die Reptilien auf ihren oft mehrere tausend Kilometer langen Wanderungen durch die Meere orientieren, ist nicht abschließend geklärt. In Betracht kommen Meeresströmungen, aber auch das Erdmagnetfeld. 

Auf dem Speiseplan der Schildkröten stehen neben Fischen, Tintenfischen, Krebsen und Quallen auch Algen und Seegras. Bei einigen Tieren wurde beobachtet, dass sie sich mit zunehmendem Alter nur noch vegetarisch ernährten. Vielleicht schaffen sie es deshalb, so alt zu werden: Forscher vermuten, das Meeresschildkröten durchaus 100 Jahre erreichen können.

Bildquelle: 

 

Die Sonne übernimmt das Brüten

Etwa alle zwei Jahre paaren sich Meeresschildkröten im offenen Meer. Die Weibchen ziehen sich dann an einen Strand zurück, wo sie rund 100 Eier in eine bis zu 50 cm tiefe Grube ablegen. Anschließend ziehen sich die Tiere zurück, das Brüten übernimmt die Sonne. 

Ähnlich wie bei Eidechsen und Krokodilen gibt es bei Meeresschildkröten eine temperaturabhängige Geschlechtsdetermination (engl. temperature-dependent sex determination, TSD), d.h. die Temperatur im Gelege entscheidet über das Geschlecht der Embryos: Bei 30 Grad Celsius und mehr schlüpfen nach sechs bis acht Wochen Weibchen, darunter kommen männliche Tiere zur Welt. 

Im Schnitt erreicht nur eine von 1.000 Meeresschildkröten das fortpflanzungsfähige Alter von 20 bis 30 Jahren. Was sie dabei antreibt und wie sie es schaffen, nach so langer Zeit schließlich zum Strand ihrer eigenen Geburt zurückzufinden, um dort selbst Eier abzulegen, ist eine der größten ungelösten Fragen der Tierwelt.

 

Viele Probleme, wenig Hoffnung

Laut Weltnaturschutzunion IUCN sind sechs der sieben Arten "vom Aussterben bedroht" oder "stark gefährdet". Das Fleisch insbesondere der Grünen Meeresschildkröte (Suppenschildkröte), aber auch die Eier gelten mancherorts noch immer als Delikatesse. Auch wegen des Schildpatts werden Schildkröten weiter bejagt. 

Die größte Bedrohung ist laut IUCN und der Umweltschutzorganisation WWF aber der Beifang: Jedes Jahr sterben geschätzte 250.000 Meeresschildkröten ungewollt an den Haken der Langleinen-Fischerei oder ersticken in Fisch- und Shrimpnetzen. Außerdem halten manche Schildkröten den im Meer treibenden Plastikmüll für Nahrung und verenden an den unverdaulichen Abfällen. 

Doch es gibt auch Hoffnung: Forscher veröffentlichten kürzlich eine Studie, wonach die Zahl der Tiere in 95 von 299 Meeresschildkröten-Populationen deutlich anstieg, während sie nur bei 35 Populationen zurückging. Die Wissenschaftler führten dies auf verschiedene Schutzmaßnahmen zurück. Das Geschlecht wurde bei dieser Studie allerdings nicht berücksichtigt.

Druckversion | Sitemap
© André Madaus