Erschienen am 10.2.2019 auf heute.de

 

Langzeitfolgen von Schikanen

Wenn Mobbing das ganze Leben beeinflusst

Menschen, die als Kinder gemobbt wurden, haben als Erwachsene häufiger Depressionen und Angststörungen, sagt Experte Peter Henningsen. Auch Autoimmunkrankheiten würden begünstigt.

 

heute.de: Behandeln Sie auch Patienten, die während ihrer Schulzeit Opfer von Mobbing geworden sind?

 

Peter Henningsen: Wir erleben sehr häufig in den Vorgeschichten unserer Patienten, dass sie entsprechende Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend gemacht haben. Das sind Menschen, die in aller Regel wegen psychischer und psychosomatischer Probleme zu uns kommen, die depressiv sind, Schmerzen oder andere psychosomatische Probleme haben. Bei der Suche nach Belastungsfaktoren stellen wir dann fest, dass Mobbing häufig ein Problem ist, das aber unterschiedlich stark erlebt wird.

 

heute.de: Haben solche Diagnosen aus Ihrer Sicht zugenommen?

Henningsen: Es wird definitiv häufiger darüber berichtet, auch weil dieser Begriff mehr oder weniger in aller Munde ist. Man sollte aber vorsichtig sein, daraus zu schließen, dass es real häufiger geworden ist. Als vor 30 Jahren das Konzept Bulimie aufkam, wurde auch sehr viel häufiger darüber gesprochen, aber wahrscheinlich gab es das Phänomen vorher auch schon. Aber durch die sozialen Medien haben die Mobbing-Möglichkeiten insbesondere im Kinder- und Jugendbereich sehr stark zugenommen. Das schafft eine neue Dimension. Das Phänomen Mobbing hat es sicher schon immer gegeben.

 

heute.de: Welche typischen Langzeitfolgen beobachten Sie an Patienten, die während ihrer Schulzeit regelmäßig gemobbt wurden?

 

Henningsen: Da gibt es sehr klare empirische Zusammenhänge. Bei Menschen, die über einen längeren Zeitraum die Erfahrung von Mobbing gemacht haben, beobachten wir sehr viel häufiger depressive Störungen oder Angststörungen. Auch psychosomatische Störungen - also Schmerzen oder andere funktionelle Körperbeschwerden - sind bei diesen Patienten deutlich höher als bei anderen, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben. Je nach Studie ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, depressiv zu sein, doppelt bis fünf Mal so hoch.

 

heute.de: Gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Mobbing und körperlichen Erkrankungen?

 

Henningsen: Es gibt gut gesicherte Erkenntnisse, dass durch schwere, belastende Erfahrungen auch sogenannte Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose, Rheuma, Colitis ulcerosa und andere ganz klar organische Erkrankungen wahrscheinlicher werden. Das sind zwar allgemeine Zusammenhänge zwischen belastenden Lebensereignissen, also nicht spezifisch für Mobbing nachgewiesen. Aber es ist plausibel, dass es auch da gilt, denn ausgeprägtes Mobbing ist ganz klar ein belastendes Lebensereignis.

 

heute.de: Wird sozialer Schmerz ähnlich verarbeitet wie physischer Schmerz?

 

Henningsen: In einer Situation des sozialen Ausgeschlossenseins - und Mobbing ist aggressives Ausschließen aus einer Gruppe - kommt es im Gehirn zu einer Aktivierung der Areale, die auch bei der Verarbeitung von ganz körperlichen Schmerzen aktiviert werden. Das sind unter anderem Teile des sogenannten Limbischen Systems. Man bezeichnet das deshalb auch als "sozialen Schmerz des Ausgeschlossenseins". Evolutionär ist das auch plausibel, weil wir als soziale Wesen natürlich ein hoch entwickeltes Warnsystem haben, wenn sozial etwas schiefläuft. Genauso wie wir Schmerzen haben, wenn uns auf körperlicher Ebene etwas zustößt.

 

heute.de: Wer schon als Kind gemobbt wurde, dem passiert das später im Leben wieder - stimmt das?

 

Henningsen: Wenn man als Kind oder Jugendlicher gemobbt wurde, dann ist die Wahrscheinlichkeit, als Erwachsener beispielsweise am Arbeitsplatz wieder in Mobbing-Situationen zu geraten - also wieder zum Opfer zu werden - ganz stark erhöht.

 

heute.de: Warum ist das so?

 

Henningsen:  Für Mobbing gibt es ja unterschiedlichste Ansatzpunkte: Äußerlichkeiten wie zum Beispiel rote Haare, ein im weitesten Sinne abweichendes Verhalten wie etwa bei einem Jungen, der sich nicht für Fußball interessiert, bis hin zu einem eher zurückhaltenden Charakter. Das sind alles Dinge, die eine Person eher zum Opfer machen. Als Erwachsener bietet man sich in gewisser Weise wieder als Opfer an, weil man der gleiche Typ ist. Dazu kommt die frühere Erfahrung, die leicht zu einer negativen Einstellung führen kann: "Ich bin ja sowieso einer, der es in Gruppen schwer hat und von anderen schlecht behandelt wird." Wenn man mit dieser Haltung in eine Gruppe hineingeht, werden sich die schlimmen Erfahrungen der Kindheit mit höherer Wahrscheinlichkeit wiederholen.

 

Das Interview führte André Madaus.

 

 

Faktenbox

 

Besonders Teenager brauchen soziale Anerkennung

Studien haben gezeigt, dass Teenager, die über längere Zeit die Erfahrung von Ausgrenzung, Demütigung oder sogar körperlicher Gewalt machen, häufiger unter psychischen Störungen leiden. Wenn Kinder und Jugendliche in der Schule oder in ihrer Freizeit sozial ausgegrenzt werden, verfügen sie noch nicht über die nötige Lebenserfahrung oder passende Strategien, um mit dem Erlebten umzugehen. Jugendliche sind deshalb von Mobbing besonders betroffen, weil sie sich in einer sensiblen Phase ihres Lebens befinden: In diesem Alter kommt es darauf an, von der Gruppe anerkannt zu werden, eine Identität und ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Aber gerade in diesem Zeitraum, unter den 12- bis 15-Jährigen, kommt Mobbing am häufigsten vor.

 

Cybermobbing verstärkt das Problem

Mobbing an Schulen ist kein neues Phänomen. Cybermobbing, also das Mobbing über soziale Medien, hat das Problem insgesamt in den letzten Jahren aber deutlich verstärkt. Es bietet den Tätern die Möglichkeit, ihre Opfer auch nach der Schule weiter zu drangsalieren und zu demütigen. Weil Kinder und Jugendliche immer stärker miteinander vernetzt sind, können sich im Internet Gruppendynamiken noch leichter entwickeln und letztlich dazu führen, dass gemobbte Kinder sich aus der digitalen Welt zurückziehen. Obwohl sie wie alle anderen dazugehören wollen, sehen sie keinen anderen Ausweg, als sich selbst zu isolieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wie erkennen Eltern Mobbing?

Kinder und Jugendliche reagieren unterschiedlich auf Ausgrenzung. Manche sind eher eingeschüchtert und ziehen sich zurück, andere reagieren aggressiv, obwohl das normalerweise nicht ihrem Charakter entspricht. Viele Betroffene leiden unter Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Appetitlosigkeit. Auch schlechter werdende Leistungen in der Schule können ein Indikator für Mobbing sein. Weil Cyber-Mobbing auch nach der Schule weitergeht, schalten betroffene Kinder oder Jugendliche Computer oder Smartphone oft sofort aus, wenn sie nicht mehr alleine sind. Fragt man Mobbingopfer nach dem Erlebten, lenken viele das Gespräch auf ein anderes Thema oder verharmlosen die Zwischenfälle.

 

Was können Eltern unternehmen?

Wer an seinem Kind entsprechende Anzeichen beobachtet, sollte das Gespräch suchen und Unterstützung anbieten. Experten raten grundsätzlich dazu, Beweismaterial wie Bilder, beleidigende Textnachrichten und entsprechende Screenshots zu speichern und auch Informationen wie Namen oder Spitznamen ("Nicknames") der verantwortlichen Nutzer zu notieren. Wenn genau dokumentiert ist, was an welchem Ort und zu welcher Zeit vorgefallen ist, ist es hinterher leichter, die Täter oder deren Eltern mit dem Fehlverhalten zu konfrontieren. Sind die Vorfälle schwerwiegend, können Eltern rechtliche Schritte einleiten und die Verantwortlichen bei der Polizei anzeigen.

 

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© André Madaus