Erschienen am 25.3.2018 auf heute.de
Höhlenmalerei in neuem Licht
Höhlenzeichnungen in Spanien wurden mit neuester Technik erstmals datiert: Sie stammen offensichtlich von Neandertalern. Haben sich Homo sapiens und Neandertaler inspiriert?
Nach seiner Entdeckung Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Neandertaler zu einem Opfer des Zeitgeistes: Wissenschaftlich, politisch und religiös schien es damals undenkbar, dass eine andere Spezies ähnliche Fähigkeiten besessen haben könnte wie der moderne Mensch, der Homo sapiens. Das Bild vom primitiven Jäger wurde erst allmählich revidiert. Jüngste Entdeckungen lassen den Neandertaler endgültig aus dem Schatten der Geschichte treten.
65.000 Jahre alte Höhlenbilder
Gerade veröffentlichte eine vierzehnköpfige Forschergruppe um den Physiker Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gleich zwei aufsehenerregende Studien: Mit
Hilfe der Uran-Thorium-Methode konnten die Forscher rote Höhlenzeichnungen in Nordspanien auf ein Mindestalter von 64.800 Jahren datieren, eine umgezeichnete Hand in der südwestspanischen Extremadura
auf 66.700 Jahre. In einer Höhle in Andalusien wurden vor mindestens 65.500 Jahren Tropfsteine rot bemalt. Da der Homo sapiens erst vor rund 45.000 Jahren nach Europa einwanderte, muss diese
Höhlenkunst von Neandertalern angefertigt worden sein.
Die zweite Studie beweist, dass schon vor rund 120.000 Jahren rote und gelbe Farbpigmente auf durchbohrten Muschelschalen aufgetragen wurden, die in einer Höhle bei Murcia in Spanien gefunden wurden. Zwar war schon länger bekannt, dass Neandertaler Schmuck zum Beispiel aus Knochen anfertigten. Man ging jedoch bislang davon aus, dass erst der Kontakt mit Homo sapiens vor 45.000 Jahren den Neandertaler zu kreativem Verhalten inspirierte.
Haben die Zeichen eine Bedeutung?
"Wenn wir aus den archäologischen Überbleibseln Rückschlüsse ziehen, sehen wir jetzt keinen Unterschied mehr zwischen dem frühen modernen Menschen und dem Neandertaler", sagt Dirk Hoffmann. "Wir
haben den ersten Nachweis, dass er Muscheln als Körperschmuck, Ornamente und Höhlenkunst im heutigen Europa lange vor dem ersten Kontakt mit Homo sapiens gemacht hat."
Die jetzt datierten und dem Neandertaler zugeschriebenen Zeichnungen sind zwar nicht annähernd so komplex wie beispielsweise die spektakulären Tierdarstellungen in der Höhle von Lascaux in Frankreich. Trotzdem ist die Höhlenkunst für Hoffmann und seine Kollegen ein Beleg dafür, dass der Homo neanderthalensis zu symbolhaftem Verhalten fähig war: "Wir wissen nicht, was der Handabdruck, die Ansammlungen von Punkten oder Strichen bedeuten, ob sie überhaupt eine Bedeutung haben. Aber man kann sich vorstellen, dass damit etwas mitgeteilt werden sollte. Es ist vielleicht anspruchsvoller, ein Zeichen zu interpretieren, als eine rein figürliche Repräsentation."
Wechselseitige Inspiration?
Insbesondere aus der Periode vor rund 45.000 Jahren finden Paläontologen Schichten, die eine wechselnde Besiedlung von modernen Menschen und Neandertalern zeigen. Wie genau der erste Kontakt zwischen
den beiden Spezies ablief, wird wohl im Dunkeln bleiben. Vermutlich gab es auch gewaltsame Begegnungen. Dass heutige Europäer je nach Herkunft zwischen zwei und vier Prozent Neandertaler-Gene in sich
tragen, spricht für eine teilweise friedliche Koexistenz und Vermischung.
Dirk Hoffmann glaubt jedenfalls, dass die Inspiration keine Einbahnstraße gewesen sein muss, sondern womöglich wechselseitig stattfand. "Viele Fertigkeiten werden erst dann ausgeprägt, wenn man einen äußeren Druck hat, also zum Beispiel auf eine andere Gruppe trifft. Die ausgefeilten Tierdarstellungen in der Höhlenkunst des Homo sapiens tauchen verstärkt auf, nachdem er sich in Europa mit dem Neandertaler vermischt hat."
Natürlich bewege man sich damit im Bereich der Spekulation, betont Hoffmann. Aber die Vorstellung, der Neandertaler könnte eine Art Initialzündung für die ersten Kunstwerke der Menschheit gewesen sein, würde ihn 150 Jahre nach seiner Entdeckung in einem ganz neuen Licht erstrahlen lassen.
Hintergrund
Die Uran-Thorium-Methode
Die Uran-Thorium-Methode gibt es seit 50 Jahren. Aber erst der technische Fortschritt der letzten zehn Jahren ermöglichte Instrumente, die mittels Massenspektrometrie geringe Probenmengen bis zu 500.000 Jahre zurück datieren können. Für die Höhlenzeichnungen analysierten die Wissenschaftler jeweils weniger als zehn Milligramm Karbonat. Es stammt von Karbonatkrusten, die sich in Jahrtausenden aus einsickerndem Wasser über den Zeichnungen herauskristallisiert hatten. Das im Wasser enthaltene Uran zerfällt zu Thorium. Anhand der Halbwertszeiten kann man das Mengenverhältnis von Uran und Thoriumisotopen ermitteln und damit den Zeitpunkt, ab dem sich die Kruste gebildet hat. Die darunter liegende Zeichnung muss mindestens genauso alt oder älter sein.
Die Vorfahren des modernen Menschen
Der Homo erectus (1,8 Millionen - 300.000 Jahre) war die erste hominine Art, die wie der moderne Mensch aufrecht ging und vermutlich auch Feuer benutzte. Er ist ein früher Vorfahre des Neandertalers und zugleich des Homo sapiens. Der Homo heidelbergensis (780.000 bis 200.000 Jahre) zählt zu den frühesten Menschen Europas und ist ein Vorfahre des Neandertalers. Von dieser Art fand man auch Werkzeuge. Unklar ist seine Abgrenzung zum Homo erectus. Nach neuesten Datierungen könnten einige Gruppen des Homo heidelbergensis sogar noch bis vor 35.000 Jahren gelebt haben. Vor rund 400.000 Jahren betrat der Neandertaler die Bühne. Mit seiner Entdeckung 1856 in der Feldhofer Grotte im Neandertal begann die Erforschung der Evolution des Menschen. Die bislang ältesten dem anatomisch modernen Menschen zugeschriebenen Fossilien wurden erst 2017 in Marokko entdeckt: Sie sind ca. 315.000 Jahre alt. Demnach hätten die frühen Homo sapiens zeitgleich mit anderen Frühmenschen gelebt.
Jüngere Entdeckungen zum Neandertaler
Eine Reihe wissenschaftlicher Entdeckungen haben das Bild vom Neandertaler nachhaltig verändert: 2014 wurden Bilder aus einer Höhle auf Gibraltar veröffentlicht, in der Neandertaler vor 39.000 Jahren
Felsritzungen hinterließen. Sie werden als Beleg für „abstraktes Denken und Ausdrucksvermögen“ interpretiert. Im Jahr darauf entdeckte man in Kroatien acht Seeadler-Krallen, die als 130.000 Jahre
alter Neandertaler-Schmuck eingestuft wurden. Noch älter sind die Funde aus der Bruniquel-Höhle bei Toulouse von 2016: Dort wurden vor ca. 176.500 Jahren Tropfsteine zu sechs Meter durchmessenden
Kreisen angeordnet. Außerdem fanden sich Spuren von Feuerstellen. Als Urheber kommen auch hier nur Neandertaler in Frage. Schließlich wurden im Februar 2018 in einer Höhle in der Toskana
Holzwerkzeuge gefunden, die mit Feuer bearbeitet wurden. Die Werkzeuge sind 171.000 Jahre alt und wurden dem Neandertaler zugeschrieben. Die italienischen Forscher schließen daraus, dass dessen
kognitive Fähigkeiten größer gewesen sein müssen als angenommen.
Konnte der Neandertaler sprechen?
Als die Erforschung der Frühmenschen begann, hätte kaum jemand ernsthaft gefragt, ob eine andere Art als der Homo sapiens zum Sprechen in der Lage gewesen sein könnte. Heute ist sich die Fachwelt
darin weitgehend einig. Spätestens seitdem man 1983 in der Kebara-Höhle im israelischen Karmelgebirge das bisher einzige Zungenbein eines Neandertalers entdeckt hat ist klar, dass er auf jeden Fall
die anatomische Voraussetzung für die Fähigkeit zum Sprechen besaß. 2007 stellte man außerdem fest, dass Neandertaler ebenso wie der moderne Mensch über das FOXP2-Gen verfügten. Dieses Gen spielt für
die Entwicklung der Sprache eine wichtige Rolle. Es wurde aus den Knochen eines Neandertalers aus einer spanischen Höhle per DNA-Sequenzierung isoliert und analysiert.
Warum starb der Neandertaler aus?
Bis heute ist nicht klar, weshalb der Neandertaler vor etwa 40.000 Jahren verschwand. Kriegerische Auseinandersetzungen mit Homo sapiens gelten als unwahrscheinlich. Tatsächlich haben beide Arten bis
zu 5.000 Jahre lang gemeinsam in Europa gelebt. Auch die Eiszeit scheidet als Faktor aus, da Europa erst vor rund 25.000 Jahren vereiste, als der Neandertaler längst ausgestorben war. Sein
Verschwinden könnte aber damit zusammenhängen, dass Homo sapiens früher geschlechtsreif wurde und so mehr Nachkommen zeugen konnte. Während der Genpool der Neandertaler immer kleiner wurde, nahmen
die Populationen des modernen Menschen stetig zu. Dazu könnten auch kürzere Abstände zwischen zwei Geburten beim Homo sapiens beigetragen haben. Als weitere Faktoren werden in der Fachwelt eine
geringere Sterblichkeit und ein breiteres Nahrungsspektrum des Homo sapiens diskutiert.