Erschienen auf heute.de am 6. März 2013

Satt ist nicht genug

Interview zum Thema "Verborgener Hunger"

Zunehmende Armut führt auch in Deutschland dazu, dass sich Menschen zwar ausreichend, aber mangelhaft ernähren, sagt der Ernährungswissenschaftler Hans Konrad Biesalski im heute.de-Interview. Das Phänomen heißt "verborgener Hunger" und steht im Fokus eines internationalen Kongresses in Hohenheim.

 



heute.de: Welche Folgen hat der sogenannte verborgene Hunger, also eine Ernährung, die ausreichend Kalorien, aber zu wenig Vitamine und andere Mikronährstoffe enthält?

Hans Konrad Biesalski: Die Folgen sind eine chronische Mangelernährung, die in der Schwangerschaft zu Entwicklungsstörungen des Kindes mit einem oft zu niedrigen Geburtsgewicht führt. Drei Millionen Kinder sterben jedes Jahr während oder kurz nach der Geburt wegen der Mangelernährung ihrer Mütter. Und das Risiko einer afrikanischen Mutter, im Kindbett zu sterben, ist 300- bis 500-mal höher als in Deutschland. Überleben die Kinder, kann die Mangelernährung ihre körperliche und geistige Entwicklung stören. Die körperliche Unterentwicklung wird am sogenannten Stunting deutlich, einer für das Alter zu geringen Körpergröße. Im subsaharischen Afrika leiden 50 Prozent aller Kinder an Stunting - die Hälfte einer ganzen Generation, die für die Entwicklung ihrer eigenen und der Produktivität ihres Landes nur eingeschränkt verfügbar sein werden.

heute.de: Ist verborgener Hunger nur in Entwicklungsländern ein Problem?

Biesalski: Nein, auch in Deutschland gibt es eine Unterversorgung mit Calcium, Folsäure und Vitamin D und in Teilen der Bevölkerung auch mit Vitamin E und A. Welche gesundheitlichen Folgen das zum Beispiel für Kinder hat, wurde bislang nicht untersucht. Das Problem in Entwicklungsländern ist sicherlich schwerwiegender als bei uns, aber eines sollte uns dennoch zu denken geben: Das Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund hat schon 2007 in einer Studie belegt, dass der Tagessatz in Hartz IV-Haushalten von 2,37 Euro beziehungsweise 3,22 Euro kaum ausreicht, um die Kinder gesund ernähren zu können. Armut ist also die Grundlage für Mangelernährung, und in Deutschland lebt inzwischen jedes fünfte Kind in Armut.

heute.de: Wie könnte der verborgene Hunger in Deutschland bekämpft werden?

Biesalski: Zunächst einmal brauchen wir eigene vergleichende Studien, wie es sie in den USA zu diesem Thema gibt. Und dann sollten wir darüber nachdenken, ob wir nicht dem skandinavischen Modell folgend eine gesunde Ernährung in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen als kostenlose Leistung einführen. In Verbindung mit Kochkursen und Unterricht in Ernährung könnte viel erreicht werden. Auch bei alten Menschen müssen wir überlegen, wie die Ernährung verbessert werden kann, ob zum Beispiel Pflegesätze überprüft werden müssen. Es darf nicht sein, dass die Mittel für eine gesunde Kost fehlen, denn gerade bei alten Menschen ist eine ausreichende Ernährung die Grundlage für Lebensqualität.

heute.de: Welche Rolle spielt bei Mangelernährung in Industriestaaten fehlendes Wissen über eine ausgewogene Ernährung?

Biesalski: Wir haben intensive Studien über Ursachen und Folgen von Übergewicht durchgeführt, aber Studien zu Mangelernährung, besonders bei Kindern, fehlen. Übergewicht ist auf jeden Fall Ausdruck einer Ernährung mit zu vielen Kalorien, aber kaum einer qualitativen Überernährung. In armen Familien gibt es dreimal so häufig übergewichtige Kinder wie in Familien mit besserem Einkommen. Das liegt daran, dass preisgünstige Lebensmittel einerseits energiereicher sind als teurere, andererseits aber auch ärmer an Mikronährstoffen.

heute.de: Manche Experten setzen im Kampf gegen Hunger vor allem auf die Steigerung von Erträgen bei Grundnahrungsmitteln wie Weizen oder Reis. Ist das aus ernährungswissenschaftlicher Sicht der richtige Weg?

Biesalski: Die Steigerung von Erträgen, falls sie im Zuge des Klimawandels und anderer Probleme wie Erosion und fehlender Flächen überhaupt möglich ist, wird das Problem nicht lösen. Den hungernden Menschen fehlt nicht primär die Quantität, also Kalorien, sondern ihnen fehlt die Qualität, das heißt die Vielfalt von Lebensmitteln, die die lebensnotwendigen Mikronährstoffe enthalten. Die Mehrheit der Hungernden auf der Welt sind Kleinbauern in ländlichen Regionen. Deshalb geht es letztlich darum, zunächst diese Familien zu stärken, damit sie sich Land, Saatgut und Düngemittel für ihren eigenen Bedarf leisten können.

 

Das Interview führte André Madaus

 



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